Heinrich Stieglitz, ein Denkmal

Von U.E.G. Schrock, Hameln


Erschienen in: Marginalien. Zeitschrift für Buchkunst und Bibliophilie. Herausgegeben von der Pirckheimer-Gesellschaft im quartus Verlag, Bucha bei Jena. Heft 229 (2.2018) S. 96 f.


Bernd-Ingo Friedrich, den »Pirckheimern« als Autor der Marginalien wohlbekannt, fügt seinen bisherigen biedermeierlichen Arbeitsschwerpunkten – den Jugendfreunden Gottlob Leopold Immanuel Schefer (1784–1862) und Hermann Fürst von Pückler-Muskau (1785–1871) – einen neuen, bedeutenden hinzu: Heinrich Stieglitz (1801–1849). Erschlagen hat es mich schier, das neue gewichtige Werk, über tausend Seiten umfassend, welches der Arnshaugk-Verlag heuer als den Zweibänder Heinrich Stieglitz, ein Denkmal realisiert. Der Titel korrespondiert mit dem 1835 anonym (von Theodor Mundt) publizierten Band Charlotte Stieglitz, ein Denkmal.

Der erste Band enthält die um neun «Exkurse« erweiterte Biographie von Heinrich und Charlotte Stieglitz, der zweite Band acht »Anhänge«, etliche »Nachklänge« und die Register. Biographie und Exkurse lassen schon erahnen, wie viel Herzblut und Lebenszeit bis 2018 eingeflossen sind. Im zweiten Band, unter »Anhänge«, verbergen sich detailliert ausgearbeitete Darstellungen von acht eng gefaßten Themenkreisen, die die Gesamtdarstellung im ersten Band unzumutbar verschachtelt hätten.

Angenehm zu lesen, zum Teil kurzweilig, fast wie ein Roman, mit Realien unterfüttert, ermöglicht die Lektüre das mühelose Eintauchen in die Zeit des Dichters Heinrich Wilhelm August Stieglitz, dessen Erstausgaben sich (noch?) dem Trend eines frappanten Preisverfalls biedermeierlichen Schrifttums auf Auktionen verweigern. Gezwungen, in zwei Brotberufen (Bibliothekar, Gymnasiallehrer) Zeit zu vergeuden, die Gesundheit zu ruinieren, um zunächst die Geliebte bei sich haben zu können, wollte Stieglitz vor allem dichten und schreiben. In einer intensiven Beziehung, in knapper glücklicher Zeit, und in beider Leiden werden Heinrich und Charlotte eins. »Ich kenne Dich vielleicht besser als Du Dich selbst«, schrieb die Geliebte, Ehefrau, Kameradin und Rezensentin. Heinrich wollte reimen, Charlotte dem Dichter dienen. Letztlich tat sie das sogar mit ihrem Freitod (s. dazu »Exkurs acht: Über den Selbstmord«).

War schon Stieglitz‘ Leben krankheitsbedingt und in Konkurrenz mit den erfolgreicheren, sich gut verkaufenden Kollegen nicht sehr glücklich, ward ihm im Nachleben übel mitgespielt: eine kontinuierliche Unterbewertung; Fehlinterpretationen, bewußt (aus purer Boshaftigkeit) oder aus (wissenschaftlichem) Schlendrian (unreflektierter Abschreiberei); eine Rolle im Schatten des Freitods seiner Gemahlin bezeichnen die Eckpunkte. Früh wird nach einem »unparteiischen Biographen« verlangt (Tewes, Aus Goethes Lebenskreise, Berlin 1905), der nun endlich in Friedrich gefunden ist. Die Oberflächlichkeit der Stieglitz-Rezeption erkennend, empört er sich, beginnt zu forschen, schlüpft schließlich in den Menschen Stieglitz. Das setzt die profunde Kenntnis des – burschikos gesagt – ganzen Drumherum voraus. Diese besitzt Friedrich, wie seine breitgefächerten Exkurse und die Anhänge beweisen. Wie Paul Scheerbart während der Zeit, in der er sich mit dem Perpetuum mobile beschäftigte, bei fast jeder Gelegenheit den Gegenstand in Brief und Rede einfließen ließ, so ist es auch mit Friedrich: Sein Lieblingskind, der Stieglitz, hat mit allem irgendwie irgendetwas zu tun, und damit hält er nicht hinterm Berg. Gnadenlos mistet Friedrich aus, um ein verifizierbares Stieglitz-Bild zu zeichnen, das in seinem Facettenreichtum schier unglaublich gelingt. Besonders wichtig sind die Anhänge »7. Heinrich Stieglitz als Texter« und »8. Vertonungen von Gedichten«, weil sie die tragenden Säulen der Rehabilitierung des Dichters bilden. »Heinrich Stieglitz‘ Publikationen« (Anhang fünf) stellt außerdem die bislang umfangreichste Bibliographie dar, mit zahlreichem Zeitschriftenmaterial. Neben Personenregister und Quellen/Literatur inklusive unpublizierter Manuskripte wird unter »Nachklänge« eine nahezu lückenlose Rezeptionsgeschichte geboten, der Bogen gespannt von »Kategorie 1: Bemüht sachlich bis schäbig« über »Kategorie 2: Leidlich gut bis akzeptabel« bis zur dritten umfangreichsten Kategorie, der chronologisch eingerichteten »Lumpenkammer«, beginnend 1835 mit Karl Gutzkow, fortgeführt bis 2009 zu Petra Hartmann.

Ein Buch, getragen von erfrischend ehrlicher Wut, die zur Tat, zum Schreiben, Richtigstellen schreitet. »Was bis jetzt über die beiden [Heinrich und Charlotte Stieglitz, Verf.] zusammengeschmiert wurde, schreit zum Himmel. Aber dort ist niemand mehr. Gott ist ja tot. Deshalb sollte man den Germanist(inn)en ‚hier auf Erden schon‘ ihre Sudeleien um die Ohren hauen, bis sie zerfallen und mindestens die Hälfte aller Planstellen an den Hochschulen streichen.« (Band II, »Nachklänge«, Einleitung). Ein Buch, das nicht nur Friedrichs scharfe Schreibe, sondern auch seinen rigorosen (bis ins Detail gehenden) Wahrheitsanspruch präzise dokumentiert.


Bernd-Ingo Friedrich: Heinrich Stieglitz, ein Denkmal. Erster Teil: Biographie und Exkurse. Neustadt an der Orla: Arnshaugk Verlag 2018. 540 S. mit 4 S-W-Abb. Pp. 21,5 x 15,5 cm. 58,00 Euro. ISBN 3-944064-88-7.


Bernd-Ingo Friedrich: Heinrich Stieglitz, ein Denkmal. Zweiter Teil: Anhänge, Nachklänge und Register. Neustadt an der Orla: Arnshaugk Verlag 2019. 434 S. mit 5 S-W-Abb. Pp. 21,5 x 15,5 cm. 58,00 Euro. ISBN 3-944064-89-5.